Was? – der hat ein Quad gebaut?!
Schon beim Lesen des Programms für die diesjährigen Jahresarbeiten der 12. Klassen kommt Vorfreude auf: Nach so vielen Monaten ohne Präsentationen, Aufführungen, Konzerte oder Monatsfeiern ist es ein ganz besonderes Gefühl, zu einer Veranstaltung in der Schule eingeladen zu werden. Dass ich die Ehre habe, den eigentlich auf sehr wenige Zuschauer begrenzten Vorträgen beizuwohnen, erfahre ich erst am Vortag. Deshalb kann ich leider auch nur die letzte Einheit besuchen, was mir das Gefühl gibt, sehr viel Spannendes und Einmaliges zu verpassen. Allein die Bandbreite der Themen ist beeindruckend: Neben dem oben erwähnten Quad wurden vom Mittelalterkleid bis zum Kochbuch, von Schreinerarbeiten bis zu elektronischer Musik so unterschiedliche Themen bearbeitet, dass alleine dies begeistert, bevor ich ein einziges Werk gesehen habe. Denn ist es nicht ein Beweis dafür, dass Waldorfpädagogik am Engelberg erfolgreich praktiziert wird? Alle Schülerinnen und Schüler haben die gleiche Einrichtung besucht und viele Unterrichtsstunden nebeneinander verbracht. Und trotzdem konnten sie ihre Interessen ganz individuell entwickeln und entdecken, was in ihnen steckt.
Der erste Vortrag, den ich anschaue, zeigt die Entstehung einer detailreichen Lederarbeit. Aaron Ludwig erklärt uns den Weg von der ersten Idee bis zum fertigen Produkt und ich stelle wieder einmal fest, wie wenig wir über all die Dinge wissen, die wir tagtäglich benutzen. Dasselbe gilt auch für das beeindruckende Klappmesser, das uns Leonhard Handte vorstellt. Denn über die Mechanik und die vielen Einzelteile, die es braucht, damit so ein Messer sich mehr als einmal ein- und wieder ausklappen lässt, habe ich mir ehrlich gesagt bisher noch nie Gedanken gemacht. Das handwerkliche Wissen und Geschick der Schüler und die Selbstverständlichkeit, mit der sie auf der Bühne stehen, überzeugen.
Lucy Heser hat sich in ihrer Arbeit mit dem Thema Upcycling beschäftigt. Sie stellt uns die Idee vor, aus bereits vorhandenen Dingen etwas Höherwertiges herzustellen und hat sich selbst auch praktisch dieser Herausforderung gestellt. Entstanden ist ein Kleid, das sie aus dem Stoff abgetragener Kleidungsstücke genäht hat. Der Vortrag macht Lust darauf, selbst etwas upzucyclen, denn man merkt: der große Vorteil ist, dass man dabei nicht unbedingt mit einem festen Plan vorgehen muss, sondern sich ganz viel im Arbeitsprozess ergibt und es kein Richtig oder Falsch gibt. Das nimmt einem doch gleich die Hemmung, einfach mal anzufangen!
Mit viel Planung und Kompetenz ist Tabea Treschl an ihr Projekt gegangen. Das Bett, das sie gebaut hat, ist wahnsinnig professionell, und niemand würde auf die Idee kommen, dass eine Schülerin es in Eigenregie hergestellt hat. Neben dem wirklich schönen Möbelstück fasziniert mich besonders, dass es der Schülerin nicht bewusst zu sein scheint, dass vermutlich nur sehr wenige Zwölftklässlerinnen anderer Schulen das Wissen, die Erfahrung und den Mut hätten, sich an ein solches Projekt zu wagen. Tabea stellt ihr Bett vor, als sei das im Grunde keine große Sache. Sie wollte ein schönes Bett, also hat sie halt eins gebaut.
Dass Musik und Physik eng miteinander zusammenhängen, ist kein Geheimnis. Sich diese Zusammenhänge nutzbar zu machen, setzt voraus, dass man sie wirklich verstanden hat. Philip Roth und Lina Kuhnle konnten sich für ihre musikalischen Projekte auf verschiedene Weise damit befassen. Beim Bau seiner E-Gitarre ging es für Philip Roth darum, den Klang der Gitarrensaiten in ein Signal zu verwandeln, das verstärkt und verändert werden kann. Neben dem kreativ-handwerklichen Teil der Arbeit, bei dem er aus Eschenholz seine ganz eigene Gitarrenkreation baute, war viel technisches Wissen notwendig, um die klassischen Funktionen einer E-Gitarre am eigenen Werkstück umzusetzen. Bei Lina Kuhnle bestand die technische Komponente der Arbeit darin, ihre selbst geschriebenen und gesungenen Lieder aufzunehmen und eine eigene CD zu produzieren. Dieses Projekt umfasst unglaublich viele einzelne Aufgaben, von denen jede einzelne einer Jahresarbeit würdig gewesen wäre. Persönliche Erlebnisse und Gefühle in Texte zu fassen und diese zu vertonen ist schon ein Schritt, an dem wohl viele von uns scheitern würden. Diese Lieder dann mit verschiedenen Instrumenten zu arrangieren und davon gleich drei Instrumente selbst einzuspielen wäre ebenfalls schon für sich genommen eine bewundernswerte Leistung. Für Lina ging die Arbeit an diesem Punkt erst los, denn um eine CD zu produzieren, musste sie sich mit Aufnahmetechniken, Tonspuren, entsprechender Software und vielem mehr vertraut machen. Dass sie eine wunderschöne Stimme hat, die perfekt zu ihren zarten, melancholischen Songs passt, sei nur nebenbei erwähnt. Wer Lina unterstützen möchte oder einfach gerne ihre CD hören möchte, kann die EP übrigens bestellen bei: linakuhnle.musik@gmail.com.
Am Ende der Präsentationen weiß ich wieder mal ganz genau, warum meine Kinder die Waldorfschule Engelberg besuchen. In den letzten Monaten ist es nicht immer leicht gewesen für Waldorf-Homeschooling-Eltern, die verzweifelt Erdkundeepochen und Buchstabengeschichten an ihre Sprösslinge weitergeben sollten und sich manchmal im Stillen einfach ein Arbeitsblatt gewünscht hätten, mit einem Lückentext vielleicht oder was zum Ankreuzen. Die Jahresarbeiten zeigen deutlich, dass Waldorfpädagogik so viel mehr ist als Wissensvermittlung. Fast alle SchülerInnen haben in ihren Präsentationen die besondere Situation im Lockdown erwähnt, die besonders junge Erwachsene sehr eingeschränkt hat. Die ZwölftklässlerInnen haben diese Zeit genutzt. Sie haben ein neues Instrument gelernt, sich handwerklich betätigt, sich mit der Welt beschäftigt. Am Ende ihrer Schulzeit steht nun nicht nur ein Abschluss. Dort stehen vor allem gut gebildete junge Menschen, die die Erfahrung machen durften, dass nichts auf der Welt so schwierig ist, als dass man es sich nicht selbst erarbeiten könnte. Und das lernt man wohl nicht durch Lückentexte und Ankreuzen.
Lilith Chromow, Vorstandsmitglied
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